Sonntag, 9. November 2014

„Da unten steht das zur Zeit gültige Recht mit der dazu nötigen Macht“

In den vergangenen Jahren schien es mir immer weltfremd und unhistorisch, dass die Bundesrepublik den 3. Oktober zum Feiertag der Einheit gemacht hat und nicht den 9. November.

Gerade heute habe ich allerdings ganz gegenteilige Empfindungen: das Gejubele um die gewonnene Einstaatlichkeit übertönt und verdrängt das Erinnern an andere deutsche November.

In zeitlicher Reihenfolge begehen wir heute:

die Erschiessung Robert Blums 1848
die deutsche Revolution 1918
den Hitler-Ludendorff-Putsch 1923
die Novemberpogrome von 1938 und
den Fall der Mauer in Berlin 1989


Dass 1974, ebenfalls an einem 9. November, Holger Meins an der Folge eines Hungerstreiks starb, scheint schon vergessen - auch wenn die Parole der spontanen Demonstration in Frankfurt am Main noch hieß: „Holger Meins, wir werden Dich rächen, Revolution heißt unser Versprechen”.

Am Donnerstag, dem 10. November 1938, lief meine 16-jährige Mutter früh morgens zusammen mit ihrem Vater durch Darmstadt, vorbei an den schwelenden Ruinen der in der Nacht zerstörten Synagoge. „Das werden wir büßen müssen" soll mein aufrecht christlich-antifaschistischer Großvater gesagt haben.

Die liberale Synagoge in Darmstadt
vor der Zerstörung 


19 Jahre früher war Darmstadt als Landeshauptstadt einer der deutschen Orte, an denen die Monarchie endlich unterging. Lothar Machtan hat in „Die Abdankung” (hier ein link zur Besprechung des neu nicht mehr lieferbaren Bandes) beschrieben, wie die zahnlosen deutschen Fürsten 1918 das Hasenpanier ergriffen, als es ums Ganze ging. Wie ein reifer Apfel fiel die Macht vom dürren Stamm der Aristokratie, und nicht überall führten die neuen Führer einen solchen Eiertanz auf wie die Berliner Sozialdemokraten, die Max von Baden, der nicht schnell genug davon gekommen war, nötigten, den Reichsverweser zu spielen, um ihnen die Macht „legal” zu übergeben. Darmstadt war 1918 hessische Hauptstadt und damit der zentrale Ort der Revolution im Land.


Die Revolution, die endlich den drückenden Krieg und seine Not beenden soll, erreicht auch Hessen im November 1918. Die auf dem „Griesheimer Sand“ kasernierten Soldaten erheben sich am 8. November, verweigern ihre Befehle, wählen „Soldatenräte“ und ziehen zu Tausenden in die Darmstädter Innenstadt.

„Auf der Straße“ übernimmt der Geschäftsleiter der Maurerorganisation, Heinrich Delp, eine entscheidende Rolle. (Heinrich Delp, 1878 - 1945. Gelernter Maurer. Gewerkschafter im Bauarbeiterverband. 1919 bis 1933 MdLVH. Landtagspräsident von 1928 - 1931. 1919 - 1926 Beigeordneter, 1926 bis 1933 Bürgermeister der Stadt Darmstadt. Starb wenige Tage nach der Befreiung, wahrscheinlich am 14. Mai 1945, im KZ Dachau an den Folgen der Haft. In der Landtagssitzung vom 25. November 1920 hat Heinrich Delp selbst die Vorgänge ausführlich erläutert. Ulrich zitiert die Rede in seinen „Erinnerungen“, SS. 104 – 109. ) Er erklärt dem Darmstädter Bürgermeister Dr. Glässing und dem Großherzog, die Stimmung der Arbeiter sei „ruhig und besonnen“ und spricht noch in der späten Nacht vor den empörten Soldaten, die das großherzogliche Palais stürmen wollen und bereits „die Namen Darmstädter Bürger und politisch maßgeblicher Persönlichkeiten“ (als künftige Opfer – pb) rufen, um sie erfolgreich zu beruhigen.

Am 9. 11. morgens konstituiert sich dann der „Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrat“ unter Vorsitz des Schriftsetzers Wilhelm Knoblauch, dem Vorsitzenden des Buchdruckerverbandes. Hessen-Darmstadt soll „freie sozialistische Republik, bis ein Deutscher Republikstaat gegründet ist“ werden. 

Carl Ulrich, der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Hessens.
Fotografie mit eigenhändiger Unterschrift
aus dem Besitz der Familie von Georg Raab


Der aus Offenbach nach Darmstadt geeilte Carl Ulrich fordert Großherzog Ernst Ludwig „ruhig aber bündig“ zur Abdankung auf, was dieser ablehnt. Den draußen wartenden Soldaten antwortet er auf die Frage, ob Ernst Ludwig zurückgetreten sei „Ihr habt ihn ja in der vorigen Nacht abgesetzt! Dabei bleibt´s!“ Der Arbeiter- und Soldatenrat, dem „Ernst Ludwig als Bürger der Republik stets willkommen“ ist (gelegentlich wird der Großherzog auch als „Bürger Brabant“ bezeichnet), beauftragt „die sozialdemokratische Landtagsfraktion … eine neue republikanische Regierung zu bilden“. Spätestens von diesem Beschluss an ist Georg Raab wieder handelnde Person, er gehört zu den mit der Regierungsbildung Beauftragten.

Georg Raab, seit dem 11. November 1918 „Direktor der Ministerialabteilung
für das Landes-, Arbeits- und Wirtschaftsamt“, nach der Landtagswahl von 1919
Minister für Wirtschaft und Arbeit bis 1928


Am Nachmittag des 10. November proklamiert Ulrich die Hessische Republik. Nachfragen der konservativen Mitglieder des „Staatsrates“ über die Legalität seines Tuns beantwortet er mit einem Wink zu den aufmarschierte Soldaten mit Kanonen und Maschinengewehren und den Worten: „Da unten steht das zur Zeit gültige Recht mit der dazu nötigen Macht“. Am 13. November wird die Regierung der großherzoglichen Minister offiziell in den Ruhestand geschickt, am 14. November das neue Staatsministerium gebildet.

(Auszug aus meinem unveröffentlichten Manuskript über den ersten hessischen Minister für Wirtschaft und Arbeit, Georg Raab, 1869 - 1932)