Mittwoch, 5. November 2014

Kleine Welt: Was Pfungstadt mit Atomspionage, einer österreichischen Kommunistin, einem DDR-Autor und dessen Tochter Gisela May zu tun hat

Barbara Honigmann habe ich kennengelernt, als wir auf Georg Büchners Spuren mit der Luise Büchner-Gesellschaft eine Exkursion nach Straßburg machten. Es gab eine Menge guter Gründe, Frau Honigmann um eine Lesung zu bitten: sie lebt in Straßburg und hat eine spannende deutsch-deutsche und eine ebenso interessante deutsch-jüdische Geschichte. Für uns kam als Besonderheit noch dazu, dass ihr in Wiesbaden geborener Vater bei Vietor in Gießen über Georg Büchner promoviert hat.

Sie hat als Buchhändlerin gearbeitet (bei „Das gute Buch” am Berliner Alexanderplatz), an der Humboldt-Universität Theaterwissenschaft studiert und als Dramaturgin und Regisseurin gearbeitet. 1976 trat sie in die (Ost-)Berliner jüdische Gemeinde ein, heiratete 1981 nach jüdischem Ritus und reiste mit Mann und zwei Kindern 1984 aus der DDR aus. Seitdem lebt die Familie in Straßburg. Sie ist Trägerin zahlreicher Preise, 2012 erhielt sie den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis, und hat eine ganze Reihe von Romanen und Erzählungen veröffentlicht. Für Frühjahr 2015 ist ein neuer Band bei Hanser angekündigt, dessen Manuskript sie in den letzten Tagen abgeschlossen hat.

Barbara Honigmann


Am 4.11. las sie auf Einladung des Darmstädter Literaturhauses im Programmschwerpunkt „Verlust und Verrat”. In Straßburg hatte Sie den Abend mit der Frage: „Soll ich erzählen oder lesen? Erzählen kann jeder!” begonnen.

Im Fokus beider Veranstaltungen stand ihr Buch „Ein Kapitel aus meinem Leben” von 2004. Die Geschichte ihrer Mutter, der Wiener  Kommunistin Litzy Kohlmann (1910 -1991), steht im Mittelpunkt der Erzählung.

Alice „Litzy” Kohlmann war in den Wiener Februaraufstand von 1934 verwickelt, wo sie in Verbindung zu dem britischen Salonkommunisten Kim Philby kam. Philby heiratete sie, um sie vor Verhaftung zu schützen. Höchstwahrscheinlich war sie in seine spätere Doppelagententätigkeit eingeweiht, vermutlich auch daran beteiligt. Im britischen Exil lernte sie den deutschen Intellektuellen Georg Honigmann kennen, mit dem sie eine zweite Ehe einging (und der 1949 Vater von Barbara wurde). Das Paar ging 1946 zunächst für die britische Militärregierung nach West-Berlin, wechselte aber 1947 in den sowjetischen Sektor, wo Honigmann für verschiedene Zeitungen arbeitete. Später waren beide für die DEFA tätig. 1956 heiratete Georg Honigmann nach der Trennung von Litzy die Sängerin und Schauspielerin Gisela May. Von 1963 - 1968 war Honigmann Direktor des Berliner Kabaretts „Die Distel”. Durch die zweite Ehe ihres Vaters lernte Barbara auch dessen neue Schwiegereltern, Gisela Mays Eltern Käte und Ferdinand May, in Leipzig kennen.

Hier schließt sich ein erstaunlicher Kreis: lange vor meiner Bekanntschaft mit Frau Honigmann hatte ich mich mit Ferdinand May beschäftigt. Er wurde am 16. Januar 1896 in Pfungstadt geboren, sein Vater arbeitete als Braumeister in der Pfungstädter Brauerei. Ferdinand May hat ein bemerkenswertes Leben gelebt. Als Sozialdemokrat arbeitete er nach 1918 für verschiedene Jugendprojekte in einer Art Werk- und Lebensgemeinschaft, gründete dann einen Handel mit Möbeln für Arbeiterhaushalte, die zur Ausstattung der Wohnungen seines Namensvetters Ernst May im „Neuen Frankfurt” Frankfurt gehörten. In Wetzlar, wo seine Tochter Gisela geboren wurde, gründete er einen Möbelhandel.

Cover der großartigen Gisela-May- CD/Buch/DVD-Box
bei Bear Family


Seine Frau Käte war Kommunistin, ihre liebevolle Verbindung entstand über die linke Jugendbewegung der Weimarer Zeit, der sich beide zeitlebens verbunden fühlten. 1926 wurde er Direktor der Leipziger Hausrat GmbH, einer städtischen Unternehmung zur kostengünstigen Versorgung der Arbeiterbevölkerung mit Mobiliar. 1932 wurde er dort Geschäftsführer des Kollektivs junger Schauspieler. May musste als Soldat in den Krieg. Sein Sohn Ulrich fiel, er selbst kam 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Zurück in Leipzig war er Mitbegründer des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands”. Er begann erste Hörspiele zu verfassen. Schließlich ernannte man ihn 1951 zum Chefdramaturgen der städtischen Theater in Leipzig, was er bis 1956 blieb. In dieser und der nachfolgenden Zeit bis zu seinem Tod 1977 entwickelte Ferdinand May eine rege literarische Tätigkeit. Es erschienen Hörspiele, Theaterstücke und Romane. 1953 schrieb er ein Drama über den französischen Revolutionär Gracchus Babeuf, das er 1957 zum Roman umgearbeitet veröffentlichte. 1958 erschien „Heinrich Crößmanns große Fahrt”, das Buch, das mich zuerst mit ihm in Verbindung brachte.

Das Buch mit einem Helden aus seiner Heimatstadt Pfungstadt erzählt die Geschichte eines Waisen, der aus Deutschland nach Amerika auswandert, dort in den Wirren des Bürgerkriegs ausgerechnet einen ehemaligen Lehrer (und Sympathisanten der Volksherrschaft) trifft, der es zum Berater der Nordstaatenregierung gebracht hat und der schließlich bei den „Wilden” Glück und Gleichheit sucht. Verzweifelt über die ungerechte Behandlung der Indianer kehrt Crößmann schließlich in seine Heimatstadt zurück. Dort sei er unter einem Grabstein mit einem eingemeißeltem Segelschiff begraben.  Diesen Grabstein, schworen mehrere Pfungstädter Stein und Bein, habe es wirklich gegeben. Ich kann inzwischen sicher sagen, dass das nicht stimmt, aber ich weiß, woher die „Erinnerung” kommt:

May, Crössmann. Berlin (Neues Leben)
1958. Schutzumschlag
May, Crössmann. Berlin (Neues Leben)
1958. Einband
das Buch trägt das Segelschiff auf dem Titel, und Mays Vorwort beginnt damit, dass er diesen erfundenen Grabstein aus seiner Erinnerung imaginiert. Für die Leser war daraus die eigene Erinnerung an einen Stein entstanden, den es nie gab.

Ferdinand May hat nach dem Krieg Verbindung mit Pfungstadt gesucht und der städtischen Bücherei eine ganze Reihe seiner Bücher geschickt. Dort wurden sie leider nicht aufbewahrt, sondern gingen den üblichen Weg „zerlesener” Bibliotheksbände. Vor ein paar Jahren konnte ich fast all seine Bücher günstig antiquarisch erwerben und dort wieder einarbeiten, sie stehen heute im Präsenzbestand. Die Texte sind allerdings auf eine Art regimetreu, die ihre Lektüre wirklich nur noch denjenigen zumutbar macht, die sich für ihn selbst oder die (Trivial-)Literatur in der DDR der 50er Jahre interessieren. Gleichzeitig sind sie aber mit einer lockeren Schreibe verfasst, die seinen großen Erfolg erklärt. Der Katalog der Deutschen Bibliothek nennt immerhin 66 Einträge, darunter zahlreiche Neuauflagen; im Katalog der Leipziger Städtischen Bibliotheken sind sogar 104 Einträge verzeichnet, darunter auch Aufsätze und Briefe.

Nach mehreren abgelehnten Gesuchen, in die der Pfungstädter Bürgermeister Heinrich Gunkel eingebunden war, hat das DDR-Regime erst nach dem Tod seiner Frau Käte (1969) und dem Eintritt des Rentenalters gestattet, dass er seine Heimat besuchte. 1977 kam er in Begleitung seiner Mitarbeiterin und Partnerin Christel Förster nach Pfungstadt und reiste von dort nach Lindenfels im nahen Odenwald, wo er offenbar noch Freunde aus seiner Jugenderzieher-Zeit hatte. Dort starb er überraschend am 8. November. Er liegt auf dem Leipziger Südfriedhof begraben.

Über mein Interesse an Ferdinand May hatte ich mehrfach Kontakt zu Gisela May, die mir natürlich als Brecht- und Eisler-Interpretin gut bekannt war, und führte mehrere ausführliche Telefonate mit ihr. Leider habe ich es bis heute nicht geschafft, sie in Berlin aufzusuchen. Ihre Stieftochter hat mir von gelegentlichen Besuchen bei der alten Dame berichtet.

Zu all den interessanten und weltpolitischen Verwicklungen kommt noch, dass Gisela May nach der Scheidung von Günter Honigmann mit Wolfgang Harich zusammenlebte. Harich war von 1952 - 1954 mit Isot Kilian verheiratet, der großen Schauspielerin und wohl Bert Brechts letzter Liebe. Harich gehört zu den SED-Rebellen der sogenannten Gruppe Harich, wurde 1956 verhaftet, kam erst 1964 durch Amnestie wieder frei, veröffentlichte 1975 den umstrittenen Band „Kommunismus ohne Wachstum”, wurde nach dem Mauerfall Mitglied eines „ZK der KPD-Initiative” und schließlich 1994 Mitglied der PDS.

Aber das sind andere Geschichten.